„Es ist das Allergeilste, was ich je gemacht habe“
«Best of Grimsel in a Day» nennt er selbst sein Projekt. Fünf klassische Routen im Grimselgebiet, insgesamt 60 Seillängen, in 16 Stunden, vorwiegend im Rope Soloing-Stil. Der 24-jährige Berner Oberländer überrannte sich selbst.
Eigentlich sollte es eine Teambegehung werden. Zusammen mit seinem langjährigen Bergfreund Nik Kohler, tüftelte Yannick Glatthard schon vor ein paar Jahren an der Idee herum, im Heimgebiet am Grimselpass, einen Klettermarathon zusammenzustellen. Dabei war es für sie nicht schwer zu bestimmen, welche Routen unbedingt dazugehören müssen. „Motörhead“ ist die wohl bekannteste Granitkletterei am Grimselpass und die meistbegangene Route im Klettergebiet „Eldorado“. Die Route wurde 1983 durch die Remy-Brüder erstbegangen. Weiter sollten die Routen „Sagitarius“ und „Fair Handsline“ dazugehören. Zwei Routen, die mittlerweile durch ihren „Plaisirstatus“ enorm viele Begehungen zählen. „Wir wählten bewusst, die grössten Klassiker aus. Es ging uns nicht um die Schwierigkeit, vielmehr um die Bedeutung der Routen. Und um die Zeit. Wir wollten es in 24 Stunden schaffen. Zudem gefiel uns der Gedanke sehr, dass wir durch die Routenwahl auch eine gewisse Nahbarkeit schaffen können.“
Weiter wählten sie die Route „Siebenschläfer“ aus dem Jahr 1977 von Hans Howald und zum Schluss die Route „Badia“, eine weitere Remy-Route an der Mittagsfluh.
Einen Zeitpunkt, um das Projekt anzugehen, bestimmten Yannick Glatthard und Nik Kohler nie. Anfang Oktober dieses Jahres schienen die Bedingungen gut und Yannick fühlte sich fit und motiviert. Leider war Nik verhindert. Deshalb wagte Yannick nach gegenseitiger Absprache, einen Alleingang durch den Marathon. Diego Schläppi begleitete ihn mit Kamera und Drohne und sorgte dafür, dass sich Yannick zwischen den Routen verpflegen und wenn nötig, Material austauschen konnte.
Um ca. 0115 Uhr kletterte Yannick im Schein seiner Stirnlampe los. Für die ersten sieben Seillängen von Motörhead brauchte er gerade mal 30 Minuten. „Ich traute mir zu, einen Teil davon free solo zu klettern, wodurch ich enorm viel Zeit sparen konnte. Beim Rope Soloing muss ich jede Seillänge doppelt begehen, beim free Soloing natürlich nur einmal“. Nach 1h 15 stieg Yannick aus. Er war doppelt so schnell, wie erwartet. Nach dem Abstieg rannte er dem Grimselsee entlang zurück zum Auto. Dort tauschte er die nötige Ausrüstung, schnappte sich sein Fahrrad und fuhr über die Passstrasse herunter zu Route Nummer Zwei, „Sagitarius“.
In der Annahme, dass es nach Originalzeitplan während des Aufstiegs langsam tagen würde, stieg Yannicks Nervosität ein wenig, als er realisierte, dass es wohl erst beim Abseilen langsam hell werden würde. Er hatte die Route nämlich nur ein einziges Mal in seinem Leben geklettert und das mit etwa 11 Jahren. „Meine Erinnerungen waren nur sehr schwach und ich musste ständig wieder das Topo behändigen, um die Schwierigkeiten abzuschätzen». Um trotzdem schnell zu sein, entschied er sich, jeweils die Länge seines Seiles auszunützen und machte dort Stand, wo ihm eben das Seil ausging. Trotz Dunkelheit und unbekanntem Terrain stieg Yannick bereits um 0700 Uhr aus. Als er abseilte, war es noch immer Nacht. Seine Stirnlampe flackerte. Beim Klettern hatte ihn das nur wenig gestört, aber beim Fahrradfahren, talabwärts auf der Passstrasse, nur mit Daunenjacke bekleidet und ohne Helm und mit schlechtem Licht, hatte er ein ungutes Gefühl im Bauch. In der Handegg angekommen, dem Ausgangspunkt für die dritte Route, die «Fair Hands Line», gönnte er sich die erste Pause und verpflegte sich. «Die Sonne ging langsam auf und ich ass Pizza und Pasta. Irgendwie fühlte sich die Welt schon etwas verkehrt an». Um 0810 brach er auf zur «Fair Hands Line».
Diese Route kennt Yannick Glatthard ein-und auswendig. Dadurch war er enorm schnell. Für den Durchstieg und den anschliessenden Abstieg über die steile Treppe der Gelmerbahn benötigte er gerade mal eine Stunde. Um 0915 fuhr er mit seinem Fahrrad eine Station weiter den Berg herunter zum Kraftwerk, um dann die Route „Siebenschläfer“ in Angriff zu nehmen. Es waren erst acht Stunden vergangen und er hatte bereits drei von fünf Routen hinter sich. Aber der Knackpunkt sollte noch kommen.
„Für mich war klar, dass das Projekt, ganz abgesehen vom Zeitfaktor, in dieser Route scheitern konnte. Als ich die Route das letzte Mal frei klettern wollte, schaffte ich es nicht, bei allen Schlüsselstellen eine Lösung zu finden.“ Die Unsicherheit war entsprechend hoch und die Spannung stieg. Doch zuerst galt es, den unteren Teil der Route, genannt „Engeliweg“ und die erste, technisch sehr anspruchsvolle, unangenehme 6b-Platte des Siebenschläfers zu meistern. Yannick beschloss, diesen Teil zu umgehen und bis zum Aufschwung seine eigene Linie, in leichtem Gelände und ohne Seil, möglichst rasch hinter sich zu bringen. „Nachdem ich den Aufschwung geklettert hatte, wusste ich, dass es sich nun in den nächsten Seillängen entscheiden wird. Aber mir war auch bewusst, dass ich mir inzwischen ca. zwei Stunden Spazung eingeholt hatte. Ich entschied mich, die Schlüsselstelle mit der Running-Jump- Technik zu versuchen, was mir auch gelang. Genau in dem Moment hatte Diego seine Drohne in Position und konnte die Moves festhalten. Was für ein Glücksmoment!».
Yannick konnte die restlichen Seillängen wortwörtlich reibungslos durchsteigen und erreichte nach nur einer Stunde und zehn Minuten den Ausstieg. Soweit immer noch dem Zeitplan voraus. Doch dann der Zwischenfall: Beim Abseilen verklemmte sich das Seil. Yannick verlor viel Zeit und musste mühsam wieder ein Stück hochklettern, um die Rapline vom Seil zu trennen. Diese war zum Glück genug lang, um über den steilen Aufschwung abseilen zu können. Daher liess er das verklemmte Seil zurück. Den unteren Wandteil musste er aufgrund des Seilmangels beim Abseilmanöver etwas improvisieren, was dank der eher flachen Felsgegebenheiten gut funktionierte.
Ausgerüstet mit einem neuen Seil, startete Yannick vom Ausgangsparkplatz der Mittagsfluh in Richtung Einstieg der „Abadia“, wo er um 1330 Uhr einstieg. Rein theoretisch hatte er nun noch elfeinhalb Stunden Zeit, um das Projekt abzuschliessen. Das nahm viel Druck weg. Doch! - Die Schwierigkeit an dieser letzten Route war für Yannick, dass er sie gar nicht kannte. Nie zuvor hatte er die Route geklettert. Er begab sich zum Schluss also in eine für ihn unbekannte Wand. Yannick war bewusst, dass die Route im Alleingang nicht einfach sein würde, hatte aber im Hinterkopf, dass er trotz des Zwischenfalles beim Abseilen von der Route „Siebenschläfer“, zeitlich sehr gut drin war und liebäugelte innerlich schon mit einer neuen Zeitlimite. „Ich merkte aber bald, dass ich doch schon ziemlich platt war, müde im Kopf und die Sonne brannte in die Wand. Meine Füsse gingen auf und schmerzten entsprechend“. Weil für Yannick die Kletterei unbekannt war, kletterte er alles gesichert und mit einer Backup-Schlaufe. Diese verhängte sich ständig und kostete Yannick noch mehr Energie Zeit und auch Nerven. Trotzdem gelang ihm die gesamte Route onsight. Mein Bizeps brannte und ich war froh, als ich die letzten, deutlich einfacheren Seillängen erreicht hatte. Ich genoss sie regelrecht und sehr bewusst. Normalerweise kämpfst du bei einem Projekt bis zum Schluss. Erst wenn du am Umlenker bist, hast du es geschafft und der Moment ist sehr kurz. Bei diesem Projekt konnte ich den Erfolg über die zwei Seillängen hinweg auf mich wirken lassen und schlussendlich ganz oben auch besser fassen. Der Ausblick talwärts überwältigte mich. Es war ein goldener Herbsttag.
Als er auf die Uhr schaute, war es 1655 Uhr. Er stoppte die Zeit. 16 Stunden hatte er gebraucht. Ganze 8 Stunden weniger als ursprünglich geplant, 4 Stunden schneller als sein innerliches Ziel.
„Es ist das Allergeilste, was ich je gemacht habe“, so fasst Yannick Glatthard seinen Marathon zusammen.
Text: Barbara Büschlen